- von Moorleichen
und anderen Irrtümern in der Archäologie
Neue Erkenntnisse durch moderne Interpretation der
archäologischen Fundstücke setzen sich ähnlich wie in anderen
Wissenschaftsbereichen immer weiter durch. Einen ersten Beweis dafür, dass
unsere Vorfahren in keiner Weise die grausamen Barbaren waren, wie sie
häufig dargestellt und beschrieben werden, liefert die Rekonstruktion der
Geschichte zu den Moorleichen von Windeby. Neueste Untersuchungen zeigen, das
die bisherigen Veröffentlichungen dazu ein falsches Bild darstellen, da die
vorhandenen Fakten und Beweise nicht richtig gedeutet wurden. Vielleicht hatte
sich auch der eine oder andere Beteiligte seinerzeit zu sehr von der eigenen,
schmutzigen Fantasie leiten lassen. Jedenfalls gibt es jetzt neue aber
gesicherte Erkenntnisse. So wie die wahre Geschichte der Moorleichen, gibt es
unzählige, inzwischen neu interpretierte Fundstücke der Archäologen, die ein
neues Geschichtsbild darstellen. Nachfolgend eine kleine Auswahl ...
Sie nahmen ein grausames Ende. Als man vor
einem halben Jahrhundert zwei Leichen aus einem norddeutschen Moor barg, fügten
sich Funde und Fantasie scheinbar eindeutig zu einer Geschichte: von der
Todesstrafe für zwei Ehebrecher. Nun haben Forscher die beiden rehabilitiert.
Es ist dunkel im dritten Geschoss von
Schloss Gottorf. Tastend und sorgsamen Schrittes muss sich nun bewegen, wer die
neu gestaltete Ausstellung "Menschen der Eisenzeit" besucht. Einzig
die Vitrinen sind spärlich beleuchtet. In einer von ihnen liegt der so genannte
Mann von Dätgen - oder besser das, was nach zwei Jahrtausenden noch von ihm
übrig ist: Hautfetzen und Knochen. Zu Füßen des ausgestreckten Körpers liegt
ein zerdrückter Kopf. Darauf sind Reste von Haaren zu erkennen.
Wenige Schritte weiter im älteren Teil der
Ausstellung sind noch das "Mädchen von Windeby" und die "Männer
von Rendswühren und Damendorf" gebettet. Fast anmutig liegt das Mädchen in
seinem Glaskasten, wären da nicht die Details. Aus der Brust lugen einige
Rippen hervor, die linke Seite des Beckens ist angehoben, darauf ruht die Hand.
Ein Band bedeckt die Augen und auf dem Körper liegt ein zerbrochener
Birkenstab. Geht der Besucher in die Knie, kann er ein obszönes Handzeichen der
Germanen erkennen - die so genannte Feige. Dabei ist der Daumen zwischen Zeige-
und Mittelfinger hindurchgestreckt - die Geste stand für Unkeuschheit. Daneben
ist eine plastische Rekonstruktion des Gesichts der jugendlichen Frau zu sehen:
blond, blauäugig und knabenhaft.
Doch die angebliche Ehebrecherin, das
"Mädchen von Windeby" ist ein Junge. Die kanadische
Gerichtsmedizinerin Heather Gill-Robinson untersuchte diese und fünf weitere
eisenzeitliche Moorleichen aus dem Archäologischen Landesmuseum im Computertomografen,
ließ Röntgenaufnahmen, Isotopen-Verhältnis- und DNA-Analysen anfertigen. Nach
drei Jahren entstand so ein eindrucksvolles Bild von Leben und Sterben in der
Eisenzeit - und zugleich ein Einblick in die Geschichte des Umgangs mancher
Wissenschaftler mit den Toten aus grauer Vorzeit.
Nun soll die Geschichte der Moorleiche
umgeschrieben und die Ausstellung umgebaut werden, verkündete unlängst der
Direktor des Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf, Claus von
Carnap-Bornheim. Denn die neuen Ergebnisse bestätigen offenbar einen alten
Verdacht: Viele der Moorfunde aus den 1940er und 1950er Jahren wurden
unsachgemäß geborgen und präpariert. Die Deutungen beruhen zum großen Teil auf
Publikationen, die heutigen wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen, teilweise
sogar als Fälschungen angesehen werden müssen. Das Paradebeispiel hierfür ist
das "Mädchen von Windeby".
Aber zurück zum Anfang: Im kleinen
Domslandmoor des Gutes Windeby unweit von Eckernförde hoben vier Arbeiter im Mai
1952 Entwässerungsgräben aus, um später Presstorf abbauen zu können. Der
Torfarbeiter Pawlik hält plötzlich inne und ruft: "Kiekt mal, da kimmt ein
Rehknochen."
Die untreue Ehefrau
Die Arbeiter erkennen dann, dass es sich
um menschliche Knochen handelt: eine Hand und einen Schenkel. Sie räumen diese
beiseite, decken die Fundstelle mit Brettern ab und ziehen mit ihrem Förderband
weiter. Vom Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte rückt Karl Schlabow mit
Museumsmitarbeitern aus, um die Leiche zu bergen.
Haut, Haare und Knochen sind gut erhalten.
Über der Mumie liegt ein "angespitzter" Knüppel, daneben ein Stein,
der offenbar vom Körper der Moorleiche herabgerutscht war. Auf ihrem Gesicht
liegt ein Band. "Im weiteren Abräumen stoßen wir in 1,29 Meter Tiefe auf
die gut erhaltene rechte Hand. Sie ist geballt, und in eigenartiger
Verkrampfung sieht man den Daumen zwischen Zeigefinger und Mittelfinger
geschoben", schreibt Karl Schlabow in den Grabungsbericht: die Feige -
Symbol für unkeuschen Lebenswandel.
Der Fund wird mitsamt dem umgebenden
Erdreich geborgen und in das Museum gebracht. Dort stellt Schlabow weitere
Eigentümlichkeiten fest. Das Haar sei kurz vor dem Tod einseitig geschoren
worden und dann auf zwei Millimeter nachgewachsen. Lediglich der Unterleib und
Teile der Brust waren stark vergangen.
Knüppel, geschorene Haare, Augenband und
dazu die eindeutige Geste - alles passte perfekt zu den Schilderungen des
römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus (55-115 n. Chr.). Er
berichtete in seinem Werk "Germania" über die rauen Nachbarn im
Norden des Römischen Reichs: "Für die Preisgabe der Keuschheit gibt es
keine Nachsicht." Die Strafe für Ehebruch "ist dem Manne überlassen:
Er schneidet der Ehebrecherin das Haar, jagt sie nackt vor den Augen der
Verwandten aus dem Hause und treibt sie mit Rutenstreifen durch das ganze
Dorf".
Beim "Mädchen" von Windeby fand
sich lediglich der Rest eines Pelzkragens - war die junge Frau nackt gestorben?
Zwanzig Tage darauf wird nur knapp fünf Meter von ihr entfernt ein Mann
entdeckt, der zeltartig mit Pfählen bedeckt und um dessen Hals eine Haselrute
geschlungen war: die Moorleiche Windeby II.
Ein Jahr später, 1953, kombiniert die
Illustrierte "Stern" die beiden Toten: "War sie eine
Ehebrecherin? - Zwei Menschen wurden vor zwei Jahrtauenden zum Moortod
verurteilt. Ein gemeinsames Verbrechen muss sie in den gemeinsamen Tod geführt
haben." Die Mär nimmt ihren Lauf. Erst sechs Jahre nach den beiden
Leichenfunden werden die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen
vorgelegt.
Karl Schlabow berichtet von der Bergung
und den archäologischen Untersuchungen. Der Anthropologe Ulrich Schäfer
identifiziert die erste Leiche als "ein 14-jähriges Mädchen", der
Paläobotaniker Rudolf Schütrumpf datiert sie mit Hilfe der Pollenanalyse
"in die frühen nachchristlichen Jahrhunderte". Als oberste Instanz
fällt der renommierte Göttinger Archäologe Herbert Jankuhn das Urteil über
"das Mädchen": hingerichtete Ehebrecherin. Seiner Meinung nach schor
man ihr einige Tage vor der Tötung einseitig das Haar; mit der Augenbinde
demütigte man sie, dann stieß man sie eine Grube im Moor. Zu vermuten sei, so
Jankuhn, dass "die Niederlegung eines erdrosselten Mannes zeitlich und
ursächlich mit der Niederlegung der weiblichen Leiche zusammenhängt".
Über die folgenden Jahrzehnte wurden
lediglich Details diskutiert, in den archäologischen Seminaren stellte man die
jugendliche Frau als Ehebrecherin vor. Filme und Krimis handelten von ihrem
Schicksal. Selbst in ausländischen Schulbüchern ist sie abgebildet. Das
"Mädchen von Windeby" beflügelte die Fantasie eines internationalen
Millionenpublikums.
Daran änderte auch die Tatsache nichts,
dass der ganze Befund bald mehr als nur fragwürdig erschien. Michael Gebühr,
Archäologe am Landesmuseum Schloss Gottorf, rollte den ganzen Fall 1978 neu
auf. "Das Kindergrab von Windeby - Versuch einer Rehabilitation"
nannte er seinen Aufsatz vom Jahr darauf. Sein Fazit: Zahlreiche Behauptungen
Jankuhns und seiner Kollegen waren schlichtweg falsch. Statt einer hingerichteten
Ehebrecherin wäre es nach Lage der Fakten viel plausibler, ein einfaches
Arme-Leute-Begräbnis zu vermuten.
Zum einen war statt der eindeutigen Geste
der Hand auf den Ausgrabungsfotos und einem später im Museum angefertigten
Röntgenbild einwandfrei zu erkennen, dass der Daumen die Fingerkuppen locker
berührte - jemand hatte also im Labor die Hand manipuliert. Zum anderen hieß es
bis dahin, dass sich nur wenige Scherben vorher zerschlagener Gefäße bei dem
"Mädchen" fanden.
Mehrere Zeugenaussagen und die Grabungsfotos
belegten jedoch, dass vier Gefäße fast intakt neben der Leiche standen. Doch
damit nicht genug: Viele Details in der Zeichnung von der Lage der Leiche bei
der Bergung im alten Grabungsbericht, darunter einige Maßangaben, waren
offenbar erst nachträglich eingefügt worden - und selbst die genaue Ortsangabe
der Fundstelle war zweifelhaft.
Unmögliches Liebespaar
Kurzum: Die wissenschaftliche Publikation
war völlig unzureichend und stimmte nicht mit den tatsächlichen Fundumständen überein.
Trotz aller Ungereimtheiten und offensichtlicher Verfälschungen der
ursprünglichen Befunde in der wissenschaftlichen Erstveröffentlichung und auch
bei Kenntnis der neuen Sachlage hielten die meisten Fachkollegen an der Theorie
von der Ehebrecherin fest. Das große Publikum nahm die moralische
Rehabilitation erst gar nicht wahr.
Erst ein halbes Jahrhundert nach der
Entdeckung, im Jahr 2002, geriet die gängige Theorie dann doch noch ins Wanken.
Wie Radiokarbondatierungen ergaben, klaffte zwischen dem Todeszeitpunkt beider
Menschen eine Lücke von wenigstens 144 Jahren. Der Mann starb demnach zwischen
185 und 380 v. Chr., das "Mädchen" zwischen 41 v. und 118 n. Chr. Das
bedeutete: Wenn das "Mädchen" überhaupt eine Ehebrecherin war, dann
konnte der Mann nicht in das Drama verwickelt gewesen sein.
Auch der Eisenzeit-Experte Michael Gebühr
hat hier oben im dritten Geschoss des Landesmuseums seinen Platz gefunden. Der
umfassende Bericht der kanadischen Gerichtsmedizinerin Heather-Gill Robinson
auf dem Schreibtisch vor ihm räumt endgültig mit der Theorie von der
Ehebrecherin auf. Denn erstmalig ist es an dem Mädchen gelungen, aus einer
Moorleiche DNA zu extrahieren. Anhand von 29 Proben kommen kanadische und
israelische Labors übereinstimmend zum Schluss: Das Mädchen von Windeby ist ein
"Windeboy".
Michael Gebühr aber zweifelt, wenn auch
zurückhaltend, die Ergebnisse der DNA-Analyse an. Nicht etwa, dass er an der
Ehebrecherinnen-These festhalten möchte - die hatte er ja selbst schon vor
Langem in Frage gestellt. Auch nicht die Tatsache, dass das Mädchen nun ein
Junge sein soll, ficht ihn an. Doch dass alle Forscher es bislang für unmöglich
hielten, den Moorleichen Erbgutinformationen abzuringen, bringt ihn ins
Grübeln.
"Die Gefahr einer Kontamination des
Erbguts ist nicht gerade gering", meint er. Schließlich sei bekannt, dass
Karl Schlabow die Leichen berührt hatte. Vielleicht ist es seine DNA.
Vielleicht stammen die Proben noch nicht einmal vom Mädchen. Falsche Knochen
hatte Heather Gill-Robinson schon am Schädel von Osterby nachweisen können: Der
in der Ausstellung gezeigte Unterkiefer gehört nicht zum Rest des Kopfes. Auch
er wurde von Karl Schlabow präpariert.
Sie glaubt zwar nicht daran, doch
ausschließen kann auch Heather Gill-Robinson eine Kontamination nicht:
"Mit den derzeitigen Methoden ist die Gefahr einer Verunreinigung des
Erbguts bei alter DNA nicht zu bannen." Man habe allerdings Proben aus dem
Knocheninneren entnommen, um das Kontaminationsrisiko so gering wie möglich zu
halten. Jedenfalls bestätige die Untersuchung auch den anthropologischen
Befund, wonach die Knochen am ehesten von einem Jungen stammen.
Plötzlich, nach über fünfzig Jahren,
erzählen das Mädchen von Windeby und ihr vermeintlicher Liebhaber eine ganz
andere Geschichte: jene von Karl Schlabow, der die Leiche barg, präparierte und
konservierte.
Er wurde am 27. April 1891 in Neumünster
geboren. Nach einem Abschluss als Kunstmaler übernahm er 1926 die Leitung des
dortigen städtischen Museums. In den 1930er Jahren trat der damalige Direktor
des heutigen Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte Gustav Schwantes an ihn
mit der Bitte heran, einige Textilien aus Hügelgräbern und Moorfunden
aufzuarbeiten: "Sie müssen diese bedeutenden Kleidungsstücke längst
vergangener Zeiten zum Sprechen bringen."
Das tat Schlabow: Er rekonstruierte
prähistorische Trachten und webte sie nach. Das Museum in Neumünster
entwickelte er zum Textilmuseum.
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm
Schlabow sogar noch die Konservierungsstätten im Archäologischen Landesmuseum in
Schloss Gottorf. Unzählige Präparate zeugen bie heute von seinem Wirken.
Wenige Schritte weiter - in der Ausstellung nach
dem ehemaligen "Mädchen von Windeby" - stößt man auf das nächste
Corpus delicti: Die so genannten Götter von Braak sind die größten erhaltenen
prähistorischen Holzplastiken Nordeuropas. Als Schlabow 1948 in Schleswig die
Holzkonservierung übernahm, restaurierte er auch die beiden menschengestaltigen
Figuren aus der Zeit um 400 v. Chr. Er ergänzte bei der männlichen Figur die
fehlenden Brusteinsätze und bei der weiblichen eine Schamlippe.
Man mag ihm vielleicht noch den
undokumentierten Ersatz der Körperteile von Moorleichen und Holzplastiken in
den Nachkriegsjahren im Einzelfall nachsehen. Offenbar hat der umtriebige
Konservator aber kaum einen wichtigen archäologischen Befund nicht auf die eine
oder andere Weise verfälscht, wenigstens in seiner Zeit am Archäologischen
Landesmuseum.
Keine Spur von Gewalt
So geht auch das Paradebeispiel für
prähistorische Menschenopfer auf sein Konto. 1950 gelangte eine
Säuglingsbestattung, die unter einer Feuerstelle bei Wilhelmshaven entdeckt
worden war, mitsamt dem umgebenden Erdreich zur Untersuchung in sein Labor. Der
Säugling war in ein Tuch eingewickelt. Neben ihm stand eine Urne.
1953 veröffentlichte Schlabow die
sensationellen Ergebnisse: "Unter Hinzuziehung der Ärzte konnte bald
erkannt werden, dass eine kleine Knochenreihe unter dem Schädel auf die
Todesursache hindeutete", schrieb er. "Bei dieser kleinen Perlenreihe
aus Knochen, die aus der Fleischmasse hervortritt, handelt es sich um
Halswirbel. Diese liegen aber zum Rückgrat in verkehrter Ordnung. Jedenfalls
kann so ein Mensch nicht leben."
Weiter berichtete der ehemalige Kunstmaler
von einem Fadenbündel, das unter den restlichen Fleischteilen des Halses
sichtbar geworden sein soll. "Die Lage des Strickes und die
Schlingenbildung führen zu dem berechtigten Schluss, dass das Kind mit dieser
Schnur erdrosselt worden ist." Doch damit nicht genug: Er entdeckte
Rippenbrüche, die er für Indizien eines Herzstoßes hielt. Schlabows
Schlussfolgerung: "Das Ergebnis der Untersuchung lässt ein Menschenopfer
vermuten. Es dürfte der erste einwandfreie Nachweis einer solchen Handlung aus
jener Zeit sein."
So wurde und wird es auch heute noch an
archäologischen Seminaren gelehrt. Nach wie vor gilt diese Säuglingsbestattung
als das Beispiel für ein Menschenopfer schlechthin. Doch auch damit wird bald
Schluss sein: Laut einer Neuuntersuchung durch Wolf-Rüdiger Teegen (Universität
Leipzig) und Michael Schultz (Universität Göttingen) ist ein natürlicher Tod
des Säuglings am wahrscheinlichsten.
Für den Strick, mit dem das Kind
erdrosselt worden sein soll, fand sich kein Nachweis, die Halswirbel sind erst
nach dem Tod verdrückt worden. Und auch im Bereich der Rippen findet sich keine
Spur von Gewaltanwendung. "Eine sorgfältige Befunderhebung und
-dokumentation durch Schlabow hat nicht stattgefunden", so die beiden
Wissenschaftler.
Die Liste solcher Manipulationen wird sich
vielleicht schon bald fortsetzen lassen: Schlabow präparierte auch das so
genannte Bauopfer aus der Wurt Tofting und Teile der Funde aus den berühmten
Mooropferplätzen von Nydam und Thorsberg. In der Klassifizierung historischer
Textilien hat mittlerweile die Diskussion um seine Rekonstruktionen ebenfalls
begonnen.
Michael Gebühr schreibt unterdessen einen
neuen Aufsatz über "sein" Mädchen. Er hat es satt, wieder und wieder
denselben Fall aufzurollen. Deshalb hat er sich für das Eckernförder Jahrbuch
etwas Besonderes einfallen lassen: "Das Windeby-Mädchen - Geschichte einer
Beziehung" heißt das Manuskript, in dem er seine immerhin über dreißig
Jahre währende wissenschaftliche Verbindung zu der Moorleiche darstellt:
beginnend bei ersten Zweifeln im archäologischen Seminar, über die Widersprüche
zwischen Akten und Grabungsbericht bis hin zu einem denkwürdigen Treffen mit
Karl Schlabow.
Als Gebühr ihn 1978 zu Hause besuchte,
waren Schlabow, der damals 88 Jahre alt war, die offenkundigen
"Fehler" unerklärlich. Der Greis war von den Ausgrabungsbildern, die
ihm da auf dem Kaffeetisch präsentiert wurden, überrumpelt. "Wo haben Sie
bloß diese Fotos her?", soll er gefragt haben. Dabei hatte er selbst den
Ausschnitt eines der Bilder in seinem Grabungsbericht gezeigt.
War der Mann ein Fälscher? -
"Nein", da ist sich Michael Gebühr sicher. Er sieht in ihm eher einen
Künstler - auf keinen Fall einen Wissenschaftler. Schlabows
Rekonstruktionszeichnungen, wie die des Schädels von Osterby, und seine
künstlerische Ausbildung legen dieses nahe. "Ich vermute", so Gebühr,
"dass er einen Befund mit dem Auge des Künstlers sah und sein Werk mit
künstlerischen Mitteln vollendete." Das Exponat der Moorleiche von Windeby
ist solch ein Kunstwerk. Schlabow stopfte die Hülle aus und schuf damit ein
Objekt, das heute nur noch bedingt Gemeinsamkeiten mit dem Befund im Moor hat.
"Als Künstler ist er
unschuldig", urteilt Gebühr. Vielleicht war er wirklich nur fantasievoll
und zugleich wissenschaftlich überfordert. Stattdessen geht Gebühr mit den
Fachkollegen ins Gericht: "Eher sind diejenigen schuldig, die ihn als
Wissenschaftler ernst nahmen und die ihm nicht die notwendigen Fragen zu den
Widersprüchen gestellt haben, sondern ihn anscheinend sogar dazu veranlassten,
eventuelle Skrupel zu vernachlässigen."
Selbst wenn die DNA-Proben kontaminiert
sein sollten: Der Körperbau des "Mädchens von Windeby" lässt auf
einen jungen Mann schließen. Fünfzehn bis siebzehn Jahre wurde der schmächtige,
1,65 Meter große Knabe wohl. Vielleicht starb er an einer - erst kürzlich
festgestellten - Zahninfektion.
Trotz allem wird die Feige auch in der
neuen Ausstellung bleiben. Nicht nur, dass die Hand fünfzig Jahre nach der
Entdeckung kaum noch verändert werden kann. Sie ist ein Symbol dafür, wie sich
eine ganze Forschergeneration vorführen ließ.
Thomas Brock ist Archäologe und Journalist. Er
arbeitet unter anderem für das Hamburger Museum für Archäologe.
Quelle: SPIEGEL ONLINE – 17. Februar 2007, 13:36
/ http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,466195,00.html
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wird
fortgesetzt – weitere Irrtümer mit neuer Interpretation werden folgen
JKS
/ 02.2007